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O.T. (Maske) 2014 H: 23 cm

 

Indianer 2013  detail

Der Zeit entrückt – die wundersame Welt der Marianne Eggimann

Ein Text von Antje Kramer zur Ausstellung " Streunen" im Keramion Frechen, 2012

Ein fünfzehn Zentimeter großes Geschöpf blickt uns schweigend an. Fünfzehn Zentimeter samtig-sandiges Porzellan. Die Pose ist die einer Knienden, die Arme trotzig vor der Brust verschränkt, den Rücken leicht nach hinten gebogen. Lediglich mit einem im Nacken gehaltenen Badeanzug bekleidet, lassen die zarten, fast kindlichen Körperformen auf eine mädchenhafte Figur schließen. Diese schlanke Silhouette wird jedoch nicht von einem lieblichen Antlitz mit Stupsnase und lockigem Haar bekrönt, sondern von einem gehörnten Tierkopf, mit gesenkten Nüstern und goldenen, schräg nach oben gerichteten Hörnern. Der Titel verrät, dass es sich um den Schädel eines Stiers handelt, besser noch um den eines schweizerdeutschen Dickschädels, dem Stieregring nämlich, der auch in einem noch so anmutigen Mädchenkörper Einzug halten kann. Diese 2010 entstandene Arbeit lässt sich nicht nur als ein subtiles Selbstporträt der im Zeichen des Stiers geborenen Marianne Eggimann verstehen, sondern steht darüber hinaus exemplarisch für einen sehr individuellen Kunstausdruck, der seine Kraft aus dem unerschöpflichen Repertoire der Affekte zieht.
Dabei war es zunächst nur ein Zufall, dass die aus dem Schweizer Emmental stammende Künstlerin für Ihre Abschlussarbeit 2003 in der Keramik-Klasse der Berner Schule für Gestaltung ein figuratives Thema gewählt hat. Entstanden ist eine Serie von zunächst glasierten Kleinstplastiken menschlicher und tierischer Gestalten, die sich im Schutze einer gläsernen Hülle in nostalgisch anmutende Schneekugeln verwandeln. Im Spiel des Lichts und der konvexen Oberfläche der Glaskuppel verwandeln sich die eingefangenen Figuren – Vögel, Affen, Käfer, Menschen – in ein skurriles Naturkundemuseum, dessen gläserne Exponate ihr Anrecht auf Bewahrung und Ausstellung durch ihre Einzigartigkeit erworben haben.
Jedes Werk von Marianne Eggimann ist ein Unikat, entstanden in einem intuitiven Schaffensprozess, der von Präzision und Geduld gekennzeichnet ist. Es bedarf unglaublicher Kunstfertigkeit, diese Kleinstformate aus Porzellan durch Modellieren, Trocknen und Schnitzen, zum Teil mithilfe von minutiösem Zahnarztbesteck, zum Leben zu erwecken. In einer Zeit, in der die Kunst das Improvisierte, das Flüchtige und Ephemere zu ihrem Arbeitsprinzip erklärt, kann man nicht umhin, die filigranen Werke von Marianne Eggimann als unzeitgemäß zu begreifen. Schon Nietzsche sah 1874 im Unzeitgemäßen eine Kraft, „gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit zu wirken“1. In der Tat verlangen diese Arbeiten nach einer Materialkenntnis, einer Kennerschaft, die sich gegen das häufig missverstandene Beuys’sche Gebot des „Jeder Mensch ist ein Künstler“ stellen. Doch mehr noch: diese Werke erscheinen als unzeitgemäß, da sie ihrer Zeit entrückt sind. Es sind im wahrsten Sinne ver-rückte Bilder, die Marianne Eggimann in der homogenen Form der Plastik zusammenführt oder eher aufeinanderprallen lässt. So eindringlich diese Assoziationen wirken, so rätselhaft ist ihr Nachhall, der Traumszenen und Erinnerungen an die Fabelwelten aus Kindheitstagen heraufbeschwört. Eine melancholisch dreinblickende Frau trägt als stolzes Ornat ein Wildschwein um den Hals (Frau mit Wildschwein, 2010); ein verliebtes Paar von Gnomen mit Zipfelmütze und Augenklappe tauscht einen keuschen Kuss auf einer vergoldeten Bank aus (Paar, 2010); Menschen wachsen Hörner, Stacheln oder Fuchsschwänze (Was gibt es zu tun, 2011) ; ein Affe reitet auf einem Mädchenrücken, ihre geflochtenen Zöpfe als Zügel haltend (Erinnerungen, 2009). Flüchtig denkt man an die Spinnenwesen einer Louise Bourgeois, an die Rhinozerosse Dalís, an Nijinskys gehörnte Kostümierung für den Nachmittag eines Fauns von Debussy. Diese absurde, geradezu surreale Bildsprache ist keiner Zeitlichkeit unterworfen. Sie entsteigt den Tiefen des Unterbewussten, badet im trüben Fahrwasser des Freud‘schen „Unheimlichen“ und gewinnt ihre Effizienz beim Betrachter durch die Diskrepanz zwischen der lieblichen Form der Porzellanfigurine und ihrer heimlich-unheimlichen Motivik. Auch die Kleider der dargestellten Personen geben nur wenig Aufschluss über eine zeitlich logische Einordnung. Marianne Eggimann lässt sich gern von alten Bildquellen, wie Fotos und Zeitschriften, inspirieren; doch fotografiert sie auch sich selbst und ihre Freunde, um gewisse Posen, Gesten und Gesichtsausdrücke für ihre Figuren zu studieren.
Durch die semantische Dissonanz, die ihren Arbeiten innewohnt, kehrt sie dem Kitsch den Rücken zu, auch wenn sie durchaus dekorative Akzente über den sparsamen Einsatz von Glasur und Glanzgold erzielt. Über die letzten Jahre haben ihre Werke immer mehr an formaler Perfektion gewonnen. Sie bedürfen nicht mehr der schützenden, deckenden Glasurschicht oder gar Glashaube, sondern ziehen gerade ihre Ausdruckskraft aus dem naturbelassenen, gebrochenen Weiß des Biskuitporzellans. Die Eigenwilligkeit ihres visuellen Vokabulars konfrontiert den Betrachter immer wieder mit animalischen Abbildern, die sich teils mit menschlichen Leibern vermengen, teils als Einzeldarstellungen behaupten. Marianne Eggimann ist auf dem Lande aufgewachsen. Die plastische Präsenz von Ziegen, Schweinen,
1 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen [1874], Leipzig : Alfred Kröner Verlag, 1930, S. 99.
Kühen, Hunden und selbst Käfern schöpft aus Erinnerungen und einem früh geprägten Verständnis für alles Kreatürliche. Es ist jedoch interessanterweise auch die Figur des Affen, die sich fernab von der eigenen Erlebniswelt wie ein Leitmotiv durch ihr Werk zieht. Mal traurig stumm, mal lauthals brüllend bevölkern Schimpansen und Gorillas diese Miniaturszenen und trotzen jedweder Logik, wenn sie in menschlichen Kleidern oder auf Sesseln sitzend die Grenzen zwischen Kultur und Natur sinnbildhaft ausreizen. Schon seit der Renaissance ist der Affe ein beliebtes Motiv, um die zivilisatorischen Schwächen seines entfernten Verwandten, den Menschen, auf ironische Weise vorzuführen. Satirehafte Darstellungen von Affen in menschlicher Kleidung und Pose waren schon bei Dürer und Tizian beliebt und fanden schließlich eine besondere Verbreitung in der von ästhetischen und politischen (Um-)Brüchen geprägten Zeit des Rokoko. Über das damals aufkeimende Interesse für die asiatische Kunst war bereits bekannt, dass der Affe im Fernen Osten als Symbol der Weisheit galt. In den sogenannten Singerien (vom französischen Wort „singe“ für „Affe“) verband sich die Suche nach einer grazilen ornamentalen Formsprache mit der effektvollen Metapher des Affen, der den Menschen im Allgemeinen und den Künstler im Besonderen nachahmt, und ihn dadurch in all seinen Unzulänglichkeiten und falscher Selbstüberschätzung bloßstellt. Hier traf Verspieltes und überladen Dekoratives auf den nüchtern rationalen Geist der Aufklärung und förderte in der Kunstauseinandersetzung ironisch distanzierte Kommentare zur Mimesis zutage. Auch Marianne Eggimanns Werke hinterfragen auf ihre Weise den Problemkreis der Nachahmung der Natur, indem sie sich vom naturalistischen Abbild entfernen, morphologische Absonderlichkeiten vorweisen und artfremde Fragmente miteinander verknüpfen. Betrachtet man ihren Bäckermeister von 2009, dieses Zwitterwesen mit menschlichem Körper und Gorillahaupt, so beschleicht einen der Verdacht, dass es sich um eine Art Alter Ego handeln könnte. So wie dieser phantastische Bäcker seinen Teig in dem kleinen, auf wurstförmigen Schwaden thronenden Topf anrührt, so hat auch Marianne Eggimann die Porzellanmasse zu ihrem täglichen Brot erklärt.
Es ist wohl das Hybride und Exzentrische, das Erschaffen von geheimnisvollen Schimären, das im Werk von Marianne Eggimann den Brückenschlag zwischen den vergangenen Moden des Rokoko und des Symbolismus zur Postmoderne vollzieht. Mögen ihre Arbeiten auch keiner Mode unterliegen, sondern eher wie ein magischer Surrealismus der Zeit entrückt sein, so finden ihre suggestiven Bilder erstaunliche Entsprechungen in unserer mittlerweile virtuell entfremdeten Welt. In Zeiten der Simulakren und der Patchwork-Identität wird die Wirklichkeit zur Travestie, in der sich Künstler, wie der Amerikaner Matthew Barney, als listige Satyrn in Szene setzen und über das Prinzip der Montage opulente Bildklänge schaffen.
Als Wahlleipzigerin hat sich Marianne Eggimann ihr Atelier in der alten Baumwollspinnerei in Plagwitz eingerichtet und befindet sich also in direkter Nachbarschaft zur jungen Malergeneration, die nun seit bald fünfzehn Jahren unter dem so vagen, wie verkaufsorientierten Etikett der Neuen Leipziger Schule gehandelt wird. Glanzeffekte und nostalgische Versatzstücke charakterisieren die traumverhangenen Kompositionen eines Neo Rauch oder eines Tilo Baumgärtel. Über ihr methodisches Handwerk und die Bejahung einer Ästhetik des Dissonanten könnten diese malerischen Interpretationen einen interessanten Dialog mit der Figurenwelt der Keramikerin eröffnen. Und dennoch spürt man in den Arbeiten von Marianne Eggimann etwas Anderes, eine eigenwillige, intime Suche nach dem Erkennen des menschlichen Wesens, das nicht in der Breite der Motivverflechtungen, sondern gerade in der Reduktion der bildnerischen Sprache seinen Ausdruck findet.
Während manche ihrer Einzelfiguren durch die Präzision der Mimik die skurrilen Charakterköpfe von Franz Xaver Messerschmidt oder die physiognomischen Studien von Johann Heinrich Füssli in Erinnerung rufen, wachsen ihren jüngsten Arbeiten eine Vielzahl verschiedenster menschlicher und tierischer Gliedmaßen. Finger, Arme, Beine, Hufe, ja selbst spitze Stachel unterwerfen die zumeist weiblichen Gestalten irritierenden Metamorphosen, die sowohl aggressiv als auch beschützend wirken. Marianne Eggimann möchte keine Geschichtenerzählerin sein. Nicht das Anekdotische zählt in ihrer Arbeit, sondern das Einfangen der Emotionen und Affekte, das Verbildlichen von unsichtbaren Wesenszügen der Wirklichkeit. Damit beherzigt sie eine Erkenntnis, die bereits ihren Landsmann Paul Klee 1920 in der Einleitung seiner Schöpferischen Konfession zu seiner oft zitierten, da überaus treffenden Formulierung inspirierte: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar.“